Belgien steht kurz davor, Sterbehilfe für schwerkranke Minderjährige zu erlauben. Die Debatte darüber spaltet die Gesellschaft. Welche Argumente führen Gegner und Befürworter der Gesetzesinitiative ins Feld?
Wann ist der Mensch alt genug, um über den eigenen Tod entscheiden zu können? Dürfen unheilbar kranke Kinder bestimmen, wann sie nicht mehr weiterleben wollen? Die Debatte über eine solche Sterbehilfe wühlt derzeit die belgische Gesellschaft auf. Die Vorstellung eines Kindes, das unter starken Schmerzen leidet, ist schwer zu ertragen; die Vorstellung eines Kindes, das sich für den Tod entscheidet, auch.
Die Debatte schwelte schon seit längerem, nun wird sie offen ausgetragen. Ein Brief von 16 belgischen Kinderärzten machte den Anfang. “Euthanasie für Kinder. Jetzt”, titelten eine niederländisch- und eine französischsprachige Zeitung Anfang November. Sie veröffentlichten den Brief, in dem die Ärzte fordern, Sterbehilfe für Kinder zu erlauben.
Zugleich machten sie deutlich, dass sie schon heute praktizieren, was erst noch legalisiert werden müsse. “Als Ärzte müssen wir Minderjährigen in Situationen unerträglichen Leidens helfen, auch wenn wir das heute außerhalb des Erlaubten tun”, schreiben sie. Durch die geltenden Gesetze sei es nicht möglich, offen mit Kindern über ein freiwilliges Lebensende nachzudenken. “Heute passiert das Beenden von Kinder-Leben im Dunkeln.”
Der Brief bestärkte diejenigen Politiker, die eine Gesetzesnovelle wollen: Am Mittwoch hat ein Senatsausschuss den Vorschlag, die Altersgrenze für Sterbehilfe aufzuheben, abgesegnet. Die beiden Parlamentskammern müssen der Gesetzesänderung noch zustimmen.
Eine politische Mehrheit gäbe es. Doch das Thema spaltet das Land. Ein Überblick über die Argumente der Befürworter und der Gegner einer Liberalisierung.
Die Befürworter:
Jean-Jacques de Gucht, ein junger liberaler Abgeordneter aus Flandern, hat mit anderen Parlamentsmitgliedern den Gesetzesentwurf eingebracht. Er will, dass die Altersgrenze gestrichen wird. Kinder, die schwer physisch leiden, könnten ein Recht auf Sterbehilfe bekommen. Bisher müssen Patienten volljährig sein.
Die Entscheidung wird von Fall zu Fall getroffen: Ein Jugendpsychiater würde die Urteilsfähigkeit überprüfen, erklärt de Gucht. Es gäbe einen ständigen Dialog zwischen Kind, Eltern und Ärzten.
Die Erfahrung zeige, dass Kinder, die unheilbar krank sind, schnell reifen. “Sie sind manchmal besser in der Lage, über das Leben nachzudenken und sich zu äußern als gesunde Erwachsene”, schreiben die Kinderärzte. Man müsse deshalb das “mentale Alter” berücksichtigen, nicht das “Kalender-Alter”.
Weil es bisher im Verborgenen stattfinde, gebe es außerdem keine Untersuchungen und Hilfen für Ärzte. Das könne zu unsorgfältigem Handeln führen und Leid vergrößern, heißt es in dem offenen Brief.
De Gucht betont, es gehe ihm um Freiheit: Jeder müsse das Recht haben, über sein Leben zu entscheiden – dazu gehöre auch der Tod. “Das heutige Gesetz diskriminiert”, sagt de Gucht. Ein 17-jähriger Jugendlicher könne genauso leiden wie ein Erwachsener, ihm werde aber die Freiheit zu gehen versagt. “Leiden kennt keine Altersgrenze”, sagt de Gucht.
Die Kritiker:
Benoit Beuselinck, Krebs-Spezialist an den Universitätskliniken Leuven, ist Mitbegründer der Bürgerinitiative “Sterbehilfe Stopp’. Der Mediziner stellt sich gegen den Vorschlag seiner Berufskollegen und sagt, wie bei Erwachsenen solle man auch bei Kindern die Leiden durch Palliativmedizin erleichtern. Nicht durch Tod.
Es gebe Möglichkeiten und Mittel, um Angst, Schmerz und Symptome wie Kurzatmigkeit zu behandeln. Manchmal sei auch Terminale Sedierung eine Hilfe – die Vergabe stark beruhigender Medikamente. Zusätzlich sei in der palliativen Begleitung auch psychologische oder spirituelle Hilfe möglich.
Bei Kindern und Minderjährigen stelle sich vor allem die Frage nach der Autonomie. “Besitzt ein Kind die Reife, um sich bewusst für den Tod zu entscheiden?”, fragt Beuselinck. “Und was passiert, wenn es Uneinigkeit in der Familie gibt?”
Eine magersüchtige Jugendliche, die einen starken Sterbewunsch hat, könne dann theoretisch um Sterbehilfe bitten, während sich die Eltern für eine Behandlung einsetzen, kritisiert Benoit Beuselinck.
Neben den Kirchen und Religionsgemeinschaften in Belgien sind auch die Christdemokraten (CD&V) gegen die Änderung. Ein Kind dürfe keinen Alkohol kaufen und kein Auto fahren – aber plötzlich über etwas so Unumkehrbares wie den Tod entscheiden, sagte eine CD&V-Senatorin. Außerdem gebe es gar keine Notwendigkeit.
Im vergangenen Jahr verzeichnete Belgien etwa 2000 Fälle von aktiver Sterbehilfe. Zwischen 2010 und 2011 gab es laut der Föderalen Sterbehilfe-Kommission keine Anfragen von Patienten unter 20 Jahren.
Nie Niederlande haben ein ähnlich liberales Gesetz
, das Sterbehilfe ab 12 Jahren erlaubt. Bis 16 müssen die Eltern zustimmen. Seit 2002 gab es den offiziellen Zahlen zufolge nur fünf Minderjährige, die Sterbehilfe wollten. Nur eine Person war unter 16. Der Abgeordnete De Gucht nennt keine zu erwartende Zahl für Belgien. “Im besten Fall muss niemand auf das Recht zurückgreifen.”